Führung: Historische Rezepte oder up-to-date?

Seit der Industrialisierung haben sich Unternehmen sowie die Art der Leistungserstellung stark verändert. Hat die Art der Führung in dieser Evolution mitgehalten und entspricht den Anforderungen des 21. Jahrhunderts?


19. Jahrhundert: Der Manager als Dompteur

In der vorindustriellen Welt der kleinen Agrar-, Handwerks- und Gewerbebetriebe waren Managementaktivitäten (in beschränktem Sinn) fast nur in den grösseren Strukturen von Militär, Staat und Kirche vonnöten. Aufklärung und wichtige Erfindungen – als wichtigste gilt wohl die Dampfmaschine von James Watt – erhöhen im Verlaufe des 18. Jahrhunderts die wirtschaftliche Dynamik. Ab ca. 1800 spricht man in Festlandeuropa von der Ersten Industriellen Revolution: In grossindustriellen Fabriken werden die Arbeit mechanisiert und Roh- und Energiestoffe im grossen Stil abgebaut und verarbeitet. Managementmässig sind die Leiter der grossen Manufakturen von deren Komplexität überfordert, denn es gibt noch kaum Vorbilder. Sie halten sich deshalb an die Rezepte, die ihnen aus der gewerblichen Produktion bekannt sind: alles in der Hand behalten, Entscheide selbst fällen, keine Delegation (was wegen der schlechten Ausbildung der Untergebenen auch nicht möglich wäre). In den USA werden in diesem Ringen um Kontrolle zunehmend die bekannten „Managementtechniken“ aus der Führung von Sklaven auf Baumwollplantagen angewandt. Führung wird neben dem Rekrutieren und Anlernen von Arbeitskräften hauptsächlich begriffen als „Kontrolle von widerspenstigen Massen“, die es an eine rigide Fabrikdisziplin mit monoton-industriellem Zeitrhythmus zu gewöhnen gilt. Das wichtigste Führungsinstrument: Zuckerbrot und Peitsche (Prämien und Zwangsmassnahmen).


20. Jahrhundert: Der Manager als Maschinist

Während der Zweiten Industriellen Revolution (ca. 1880 bis 1930) intensiviert sich die Mechanisierung. Elektrotechnik, Chemie und Automobil entwickeln sich zu neuen Industriezweigen. F. W. Taylor erfindet das Konzept der Arbeitsteilung und ebnet damit der Massenproduktion den Weg. Die Apparatefabrik Landis und Gyr in Zug beispielsweise erhöht durch Einführung der Fliessarbeit den Output pro Mitarbeitenden um das 125fache (1905 verglichen mit 1939). In einer fast religiösen Technikgläubigkeit wird auch die Organisation als Maschine gesehen – samt der Überzeugung, diese sei wie eine solche steuerbar. Im taylorschen Konzept der Wissenschaftlichen Führung („scientific management“) sind Planung und Kontrolle die dominierenden Leitungsfunktionen. Alleiniges Ziel: möglichst hohe Effizienz durch minutiöses Definieren und Optimieren sämtlicher Abläufe. Für persönliche Entwicklung gibt es kaum Möglichkeiten.

Parallel dazu entwickelt sich ausgangs des 19. Jahrhunderts ein paternalistisches Führungsverständnis: Wegen Aufständen gegen die Zustände in den Fabriken und der Verelendung breiter Massen (infolge Bevölkerungswachstum und Mechanisierung) sehen sich Unternehmer gezwungen, mehr soziale Verantwortung wahrzunehmen. Der Paternalismus zeigt sich darin, dass die Welfare-Programme zwar das Wohl der Arbeitnehmerschaft verbessern. Das vorherrschende Menschenbild, das Douglas McGregor 1960 als „X-Typ“ bezeichnen wird, ändert sich jedoch nicht: Der Mensch ist grundsätzlich arbeitsscheu und muss gelenkt, kontrolliert und mit Strafe bedroht werden. Geld ist die alleinige Belohnungsform: Für Taylor stellt es das einzige Mittel gegen die „angeborene Drückebergerei“ dar, und als Henry Ford 1914 den Tageslohn verdoppelt, lässt er die Arbeiter zuhause kontrollieren, weil er befürchtet, das zusätzliche Geld führe die Leute auf Abwege („to ensure that their homes were neat and clean, that they did not drink too much, that their sex life was without tarnish, and that they used their leisure time profitably“). Die Art der Führung könnte als „Management by Jukebox“ bezeichnet werden: Geld rein, Arbeit raus.

Die Art der Arbeit wie auch der Arbeitnehmer haben sich stark verändert. Welche Art von Führung ist adäquat für das heutige Verständnis von Arbeit und Mitarbeitenden?


21. Jahrhundert: Der Manager als Katalysator/Coach

Die Arbeitsteilung ist weiter fortgeschritten, und die Industrie- hat sich zu einer spezialisierten Wissensgesellschaft weiterentwickelt. Die monotonen industriellen Fertigungsprozesse sind automatisiert. Die hochqualifizierten und selbständigen Menschen werden dort benötigt, wo es um komplexe Arbeiten oder Kundenbetreuung geht. Soziale Kompetenz spielt wegen stärkerer Aussen- und Kundenorientierung, Vernetzung und interdisziplinärer Arbeit eine bedeutende Rolle. Auf das Verhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeiter sowie die Art der Führung hat dieser Wandel massive Auswirkungen: Häufig ist der Spezialist dem Vorgesetzten kompetenzmässig überlegen. Der mobile Wissensträger ist als Ich-AG unterwegs und nach McGregor ein „Y-Typ“: Er verfügt über intrinsische Motivation und sieht Arbeit als wichtige Quelle von Zufriedenheit. Er setzt sich mit komplexen Fragen auseinander, verknüpft Knowhow und Disziplinen, bewegt sich teilweise im Unbekannten, schafft Wissen und Zusammenhänge und muss fallweise angemessen reagieren können. Im Gegensatz zum Industriearbeiter ist der Wissensarbeiter im Besitz seiner Produktionsmittel – und sollte deshalb weniger als Kosten- und Produktionsfaktor, sondern viel mehr als Vermögenswert und strategischer Erfolgsfaktor gesehen werden.

Zu einem solchen Menschen passt das taylorsche maschinell-technokratische Management (organisieren, anweisen, steuern, kontrollieren) wie Headbanging zu klassischer Musik. Eine hochqualifizierte Arbeitskraft, die sich selbst führt und Entscheidungskompetenz wahrnehmen kann, muss und kann nicht angewiesen werden. Adäquat ist eine orientierende und coachende Form von Führung: Vermittlung eines klaren und inspirierenden Bildes der Zukunft (Visionarbeit), um die intrinsische Energie zu verstärken und in die gewünschte Richtung zu lenken. Mit Fragen und Perspektivenwechseln weiterhelfen. Hohe Sozialkompetenz, um Teams optimal zusammenzustellen, Mitarbeitende mit den passenden Aufgaben zu betrauen, bereichsübergreifende und interdisziplinäre Arbeit zu fördern und Schnittstellenproblematiken sowie Konflikte zu lösen. Das massgebliche Führungsprinzip heisst Fordern und Fördern: An den Wissensarbeiter können klare Forderungen gestellt werden, nach deren Erfüllung er selbständig strebt. Kontrolle ist durch Eigenverantwortung zu ersetzen. Die Zuteilung von Aufgaben erfolgt im Bewusstsein, dass persönliche Entwicklung und das Wachsen an Herausforderungen ähnlich wichtig sind wie die monetäre Belohnung. Der Vertrag zwischen Firma und Arbeiter lautet nicht mehr „Arbeit gegen Brot“, sondern „Engagement gegen Opportunität“.


Und in Ihrem Unternehmen?

247 der Fortune500-Unternehmen starteten in der Zeit von 1880 bis 1929. Wenn man bedenkt, dass (Führungs-)Kultur langfristig stabil und äusserst schwierig zu verändern ist, liegt es im Bereich des Möglichen, dass sich in einem Unternehmen mit längerer Geschichte einige historische Führungsüberzeugungen in die Gegenwart retten konnten. Wie sieht es in Ihrem Unternehmen aus? Handeln Führungskräfte wie Dompteure, Maschinisten oder katalysierenden Coaches? Das Bewusstsein darüber ist der erste Schritt zur Veränderung.

Copyright Text und Infografik bei Roger Rusch. Alle Rechte vorbehalten.